Das Schwache in uns
von Michael Knorr
Wieso verletzen Menschen andere Menschen, schlagen Eltern ihre Kinder, obwohl sie selbst Gewalt erlebt haben? Eigentlich müssten sie doch wissen, wie schlimm das für Kinder ist. Wie ist der Hass von Menschen auf Menschen zu erklären, die hierher in eine Fremde geflüchtet sind und alles aufgegeben haben?
Wie ist zu erklären, dass Kinder und Jugendliche, die selbst Opfer von körperlicher Gewalt oder seelischer Misshandlung wurden, ihre Altersgenossen auf dem Schulhof mobben oder drangsalieren? Eigentlich kennen sie doch das Gefühl von Ohnmacht und wie schlimm sich das anfühlt.
Wie ist zu erklären, dass in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche, in denen das Alte in Frage gestellt wird und das Neue noch keine feste Form hat, viele Menschen die AFD attraktiv finden?
Wie ist die Herzlosigkeit von Menschen zu erklären, die Flüchtende nicht aus Seenot retten wollen, sondern sogar die kriminalisieren, die Menschen vorm Ertrinken retten? Und wie ist die Angst vor Fremden, anderen Hautfarben und anderen Lebensformen wie Transsexualität, Schwul- oder Lesbisch sein zu verstehen? Im Urlaub sind diese Menschen doch auch Fremde und entdecken Fremdes.
Der 2015 verstorbene Psychotherapeut Arno Gruen erklärt es sehr anschaulich - auf einer psychologischen Ebene. Es beschreibet es so, dass Menschen, deren Kindheit durch Angst, Bestrafung, Verachtung und durch eine dauerhafte elterliche und pädagogische Stresssituation durchzogen ist, gegen ihre eigene geglaubte Schwäche im Laufe ihrer Entwicklung Hass entwickeln und daraus später die Bereitschaft zur Gewalt entstehen kann, an sich selbst oder an anderen. Ich selbst mit meiner Ausbildung als körperorientierter Systemtherapeut, der mit Traumata arbeitet, kann dieser Sichtweise nur zustimmen.
Das Unzulängliche, unser Versagen, unsere Fehler in der Schule und das Kind, das sich zumutet, all das wird als nicht erstrebenswert dargestellt und muss wegerzogen, vermieden werden. Vom Kind wird dieser Teil des Seins als Schwäche erlebt. Das Schwache wird nicht geliebt, dafür bekommt das Kind eher schlechte Noten, was wiederrum als Abwertung der Person erlebt wird. Das Schwache behindert den schulischen Erfolg und versetzt die Eltern in Stress, wenn es um die Zukunft ihres Kindes geht, in einer Gesellschaft, die Leistung und Konkurrenz fördert und fordert.
Das sogenannte Schwache in uns ist das Zarte und Weiche; es hängt mit dem Gefühl der Unzulänglichkeit zusammen. Es ist Bedürftigkeit und das Zarte, was als Kind verletzt wurde, weil es von den Eltern nicht verstanden oder abgewertet wurde. Später offenbart sich die Bedürftigkeit und das Verletzt-sein im anderen Gewand, dann in Form der Ablehnung. Das eigene Schwache ist dann mit Scham und Schuldgefühlen besetzt und wird lieber verborgen als offenbart. Mit aggressiven Aktionen wird wütend die ersehnte Stärke dargestellt.
So lernt das Kind also die vermeintliche Schwäche in sich abzulehnen, je nach dem bis zum Selbsthass. Wenn diese Kinder ein Umfeld erleben, das keinen Platz lässt für das Versagen und für das Nicht-Funktionieren, für Widerspruch und Kompliziertheit, dann erhalten sie auch keine Anleitung und Ermutigung zu lernen, dass diese Anteile menschlich sind und zum Leben gehören und dass diese ungeliebten, abgelehnten Seiten liebevoll zu integrieren sind.
Wenn solch ein “einseitiges” Kind oder Jugendliche*r später ein Gegenüber erlebt, das genau diese abgelehnte „Schwäche“ zeigt oder durch ein bestimmtes Verhalten von Schwachsein und Bedürftigkeit bei anderen Menschen an die eigene Bedürftigkeit erinnert, muss dieses Gegenüber abgelehnt oder sogar attackiert werden. An dieser Stelle Empathie und (Mit)-Gefühl für das Gegenüber zu zeigen, ist nicht möglich, sogar gefährlich, weil sonst die eigene abgelehnte Schwäche (mit)gefühlt wird. Wie in einem Spiegel wird all das Ungeliebte und Verurteilte von sich selbst auf den anderen projiziert, aus Schutz, um die eigene Schwäche, Ohnmacht, Verzweiflung und Unsicherheit nicht fühlen zu müssen. Die eigene arme Seele, die Armseligkeit, darf keinen Platz bekommen.
Die andere Möglichkeit mit dem abgelehnten Schwachen von sich umzugehen ist, Hass auf sich selbst zu fühlen. Mit selbstverletzenden Aktionen werden dann die Gefühle von Schwach-sein bekämpft, in dem die Person sich ritzt, hungert oder sich mit Suizidgedanken plagt.
Wo das Vermögen, sich selbst und seine eigenen Gefühle wahrzunehmen verloren ging, Bedrohung auslöst und vielleicht sogar Selbsthass an deren Stelle getreten ist, verkümmert auch die Fähigkeit zu erlebten Mitgefühl und gelebten Mitfühlen. Dieser Entfremdungsprozess von den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen zwingt das Kind das eigene Selbst aufzugeben (bzw. es wird darin gar nicht unterstützt, um ein eigenes auszubauen) und es zu etwas Fremden zu machen. Das Kind, das eh alles tut, um den Erwartungen der Eltern und anderen Menschen gerecht zu werden, orientiert sich dann nicht an eigenen inneren Prozessen, an seinen Gefühlen und Erfahrungen, sondern am Willen einer Autorität. In einem Bild ausgedrückt, es ist von sich selbst leer.
Deshalb sucht es sich im Laufe seiner Entwicklung im Außenfeld weitere Autoritäten. Dabei orientiert es sich nicht an Autoritäten, die für Vielfallt, Verständnis, Mitgefühl, Unsicherheiten oder Diskussion stehen, sondern für Autoritäten, die für Spaltung in Gut und Böse, für Abwertung, Konkurrenz und Kampf stehen, ganz gemäß seinem inneren bekannten Weg.
Gerade deshalb sind seelisch schwer verletzte Jugendliche sehr empfänglich für Gruppen, Personen und Ideen, die das vermeintliche Schwache, Verletzliche und Gefühlvolle und ebenso auch das Weibliche, das für das Gefühlvolle repräsentativ gesellschaftlich steht, ablehnen, verfolgen oder diskriminieren. Sie lehnen im Anderen die von ihnen verhassten Anteile ab. Sie lenken von sich selbst, ihrer Bedürftigkeit und Schwäche ab.
Diese Sichtweise und deren Folge der eigenen abgelehnten Schwäche lässt sich sowohl individuell begreifen, wie aber auch auf gesellschaftliche Situationen beziehen.
Psychologie ist noch keine wertgeschätzte anerkannte Lebenswissenschaft. Wie auch. Im Prinzip vertritt sie den Gefühlsaspekt, also die sogenannte weibliche Seite und damit die abgewertete Seite, der gegenüber der logischen, abstrakten und an überprüfbaren (scheinbaren) Fakten orientierte Weltsicht steht, die Sicherheit und Voraussagbarkeit suggeriert, ohne Gefühle und sonstige emotionale Verwicklungsmöglichkeiten.
Psychologie ist sozusagen eine Anwaltsstelle für das Schwache, für das Abgelehnte in uns selbst und für das Mitgefühl. Die Psychologie könnte als Empathieentwicklungstelle in Schulen und Unis eingerichtet werden, erst einmal für Lehrer*innen und dann für die von ihnen begleitenden jungen Menschen. Wieso dürfen Lehrer*innen ohne Selbsterfahrung unsere Kinder unterrichten? Gerade Empathie und Integration des eigenen Abgelehnten sind notwendige Zutaten für die Gestaltung von Kooperation und von Commons, von menschenwürdiger Politik, im Großen und im Kleinen.
Michael Ende hat in der Geschichte von Jim Knopf gezeigt, wie Scheinriesen zu erkennen sind: je näher du dem Riesen Tur Tur kommst, umso kleiner wird er, was im Umkehrschluss auch bedeutet: je weiter du vor ihm davonläufst, umso größer erscheint er.